Das Projekt Briefe adeliger Frauen, finanziert vom Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung, am Institut für Geschichte der Universität Wien, unternimmt den Versuch Briefe aus dem 16.-18.Jahrhundert als Quelle zu erschließen und in Bezug auf struktur- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen zugänglich zu machen. Briefe dieser Art, kaum literarisch gestaltet und eher einem Telefongespräch ähnlich, sind in der Vielfalt der Themen die sie ansprechen bestens geeignet die Komplexität sozialer Beziehungen und Bezugssysteme innerhalb vormoderner Gruppen und Verbände offenzulegen, dadurch ist aber der Brief gleichzeitig als Quelle methodisch schwer in den Griff zu bekommen. Der hier unternommene Versuch, die Möglichkeiten des Internet zu nutzen um diese Texte zugänglich zu machen, hat seinen Ursprung in dieser Erfahrung.
Der Brief ist die Grundform der Kommunikation
zwischen dem Absender einer schriftlichen Mitteilung und deren Empfänger.
Wenn im folgenden versucht wird, den Terminus "Brief" einer definitorischen
Klärung näherzubringen, dann rührt dies nicht nur aus der
hinlänglich bekannten Tatsache, daß Briefe in vielen Bereichen
gesellschaftlicher Kommunikation auftreten und damit zu einem Zeugnis für
Vorgänge auf den verschiedenen Gebieten der historischen Entwicklung
werden können; dieser Versuch entspringt auch der Beobachtung, daß
Briefe bisher fast ausschließlich als literarische Phänomene
angesehen und vorwiegend im Zusammenhang mit literarischen Gattungen einer
poetologischen Betrachtungsweise unterzogen wurden. In dieser Weise formulierte
Irmtraud
Schmid aus ihrer Sicht das Problem der definitorischen Bestimmung der
Gattung Brief. Die Versuche den Brief von der Rede, dem Tagebuch
oder der Autobiographie abzugrenzen, führten ebenfalls zu keiner eindeutigen
Begriffsbestimmung. Eine Definition des Briefes ist nur dann zu gewinnen,
wenn man ihn als historisches Dokument betrachtet, welches er zunächst
und in erster Linie ist. Zu einer literarischen Gattung kann der Brief
erst werden, wenn er eine entsprechende inhaltliche und sprachliche Qualität
erreicht hat. Stellt man den Brief jedoch in den größeren Zusammenhang
aller schriftlichen Zeugnisse der Vergangenheit, dann wird deutlich, daß
er eine historische Quellengattung unter vielen anderen ist, die seit langem
durch entsprechende historische Hilfswissenschaften definiert und beschrieben
worden sind.
Unter allen Schriftgattungen, die der historischen
Quellenkunde bekannt sind, blieb der Brief allerdings erstaunlich wenig
beachtet. Vielleicht auch deswegen, weil die Bezeichnung Brief im Laufe
der historischen Entwicklung in vielfältigen, zu Unklarheiten und
Mißverständnissen führende Bedeutungen auftritt. Sie wird
teilweise noch heute unterschiedlich gebraucht, sodaß auch die Selbstbezeichnung
"Brief" nicht über den tatsächlichen "Briefcharakter" eines Schriftstücks
aussagt. Im klassischen Latein standen für den Brief die Termini "epistola"
oder "littera(e)" zur Verfügung, wobei der letztere vor allem für
Urkunden benutzt wurde. Als entsprechende Übersetzung wurde "brief"
im Mittelhochdeutschen für Schriftstücke urkundlichen Charakters
gebraucht. Seit dem 16. Jahrhundert verengt sich der Wortgebrauch im Zuge
der Differenzierung des Urkunden- und Aktenwesens auf die Bedeutung, die
sich in der Gegenwart durchgesetzt hat.
Die wesentlichen Bestimmungs- und Unterscheidungsmerkmale
des Briefes als eine quellenkundliche Gattung sind zum einen der auf persönliche
Anliegen bezogene Inhalt, zum andern, der persönliche, von amtlichen
oder geschäftlichen Befugnissen unabhängige Charakter der Beziehungen
zwischen Absender und Empfänger.
Bei den ermittelten Briefen handelt es sich
durchwegs um sogenannte Familienbriefe, also Briefe, die im erweiterten
Geschlechtsverband an die Eltern, Geschwister, Großeltern, Verwandte,
Freunde und zwischen Ehepaaren geschrieben wurden. Die Bedeutung dieser
Briefe als historische Quelle beruht darauf, daß sie unmittelbare
Einblicke in alle Sphären persönlicher, zwischenmenschlicher
Beziehungen bieten. Sie enthalten nicht nur Informationen über Fakten
und Ereignisse, sondern lassen in vielen Fällen Gedanken und Gefühle
der Briefpartner erkennen, zeigen ihre persönlichen Leidenschaften
und Nöte und machen Motive ihres Denkens und Handelns deutlich.
Von germanistischer Seite wurde diese Facette
der Quellengattung Briefe zwar erkannt, aber nur dann ausgewertet,
wenn ein literarischer Anspruch damit verbunden war. Die Historiker, jedenfalls
seit Georg Steinhausen,
haben den Brief als historische Quelle eher marginalisiert. Für den
stadtbürgerlichen Bereich legte erst Mathias
Beer 1990 eine umfassende Studie vor.
Ziel des vorliegenden Projektes ist das Studium
der Menschen - vor allem der Frauen - innerhalb des Hof- und Landadels,
aber auch innerhalb des Klientelsystems der Habsburger. Gerade diese Frage
war bisher – wie der kurze Forschungsüberblick gezeigt hat – kaum
noch Thema der Forschung, unter Hinweglassung von Biographien über
die Frauen des Kaiserhauses.
Das geplante Projekt will auf einer möglichst
breiten prosopographischen Basis Beziehungen zwischen den verschiedenen
Menschen thematisieren und analysieren. Dabei sollen die adeligen Frauen,
deren Familienverband und deren Herkunft, soziale Vernetzung und Bildungshintergrund
erfaßt werden, sodaß auf sehr vielen Ebenen Aussagen über
das Funktionieren der weiblichen Kommunikationsnetze möglich werden
sollten.
Der soziale Raum des Adels soll auch zu den
realen Räumen in Beziehung gesetzt werden. Fragestellungen nach den
jeweils an diesen Orten zur Verfügung stehenden personellen Infrastrukturen
und den Beziehungen zur nicht-adeligen Bevölkerung wären auch
in diesem Kontext zu untersuchen.
Das geplante Projekt versucht aber auch eine
Verbindung zwischen den bisherigen Modellen des Funktionierens der adeligen
Gesellschaft (z. B. Norbert Elias)
und den vorhandenen biographischen Einzeluntersuchungen und Familiengeschichten
zu schaffen. Analytische Verfahren, die sozialwissenschaftlich definierte
geschlechtergeschichtliche Kategoriensysteme miteinbeziehen, sollen sowohl
auf bereits erarbeitet, als auch auf durch Archivstudien noch zu erforschende
prosopographische Materialien angewendet werden.